Theoretische Physiker nutzen das Hamiltonsche Prinzip, wonach die Wirkung stets einen Extremalwert annimmt, zur Herleitung der physikalischen Bewegungsgesetze. Richard Feynman hat dieses Prinzip mit der Pfadintegralmethode auf die Quantenfeldtheorien  übertragen, wonach ein Teilchen alle denkbaren Wege nimmt, wobei jeder Weg mit der jeweiligen Wirkung gewichtet wird und über alle Pfade integriert wird. Doch worauf ist diese fundamentale Rolle der physikalischen Größe Wirkung zurückzuführen?

Der Umstand, dass sich die Bewegungsgleichungen in allen Teilgebieten der Physik aus dem Prinzip der kleinsten Wirkung herleiten lassen, ist höchst bemerkenswert. Die naturphilosophische Denktradition sah darin ein allgemeingültiges Prinzip der Natur, stets optimal abzulaufen. Auch Max Planck interpretierte das Prinzip der kleinsten Wirkung als einen Hinweis auf die Zweckgerichtetheit der Natur. Zeitgenössische Physiker vermeiden einen solchen metaphysischen Überbau. Damit bleiben sie allerdings sprachlos, wenn die Frage darauf kommt, weshalb das Prinzip der extremalen Wirkung so wirkmächtig ist.

Wir wollen versuchen, einen physikalischen Grund zu finden, weshalb die physikalische Größe der Wirkung eine derart entscheidende Rolle bei der Grundlegung der Physik spielt. Wo könnte die Suche starten?

Wir haben an unerwarteter Stelle eine heiße Spur gefunden. Bei einer Beschäftigung mit der relativistischen Mechanik haben wir das bekannte Zwillingsparadox etwas abgewandelt und sind dabei auf einen unorthodoxen Gedanken gestoßen.


Gedankenexperiment


Stellen wir uns einen riesigen Planeten vor, auf dem sich zwei Zwillige zu einem Experiment verabreden. Der eine Zwilling hat zu Fuß den Planeten am Äquator umrundet und dabei mit einem Stab, dessen Länge wir 1 Meter nennen würden, den Umfang des Planeten zu 180.000.000 Metern bestimmt. Der andere Zwilling erhält nun die Aufgabe, den Umfang des Planeten zu bestimmen, indem er mit einer Rakete den Planeten knapp über dem Boden entlang des Äquators umkreist. Beide Zwillinge besitzen zudem baugleiche Uhren. Der Raumfahrer besteigt seine Rakete und beschleunigt sie auf 3/5 der Lichtgeschwindigkeit c. Nachdem er die Endgeschwindigkeit erreicht hat und an seinem Bruder unmittelbar vorbeifliegt, drücken beide Zwillinge auf die Starttaste ihrer Uhr. Als die Rakete erneut den Zwilling am Boden passiert, drücken beide Zwillinge die Stopptaste. Der Zwilling am Boden liest auf seiner Uhr eine Zeit ab, die wir 1 Sekunde nennen. Der Zwilling in der Rakete dagegen liest aufgrund der relativistischen Zeitdilatation nur 0,8 Sekunden auf seiner Uhr ab. Nach seiner Messung betrug die zurückgelegte Strecke entlang des Äquators aufgrund der relativistischen Längenkontraktion nur 144.000.000 Meter. Hinsichtlich der Geschwindigkeit seiner Rakete ist er sich mit seinem Zwilling jedoch einig: Der Raumfahrter bestimmt seine Geschwindigkeit als v = 144.000.000 Meter / 0,8 Sekunden = 180.000.000 Meter / Sekunde, während sein Bruder mit v = 180.000.000 Meter / 1 Sekunde zu dem gleichen Ergebnis kommt.  

Im Moment des jeweiligen Vorbeiflugs der Rakete befinden sich die beiden Zwillinge offenkundig nahezu am gleichen Ort und in derselben Gegenwart. Hinsichtlich der dazwischen zurückgelegten Zeitdauer und Wegstrecke sind sich die beiden Zwillinge allerdings uneins. Folglich kann die Gegenwart nicht durch raum-zeitliche Koordinaten bestimmt sein. Zu diesem Ergebnis war auch bereits Einstein mit seinen Überlegungen zur Ungleichzeitigkeit von koinzidenten Ereignissen für gegeneinander bewegte Beobachter gekommen. 

Es gibt aber eine physikalische Größe, die zwischen den beiden Begegnungen für beide Zwillinge dieselbe Änderung erfahren hat: Die Wirkung ΔS = E * Δt. Für den Zwilling am Boden ergibt sich ΔS = m0c2 * Δt, für den Zwilling in der Rakete ist ΔS = mc2 * Δt' = γ * moc2 * Δt / γ = m0c2 * Δt, wobei γ = (1 - (v/c)2)-0,5  den Lorentz-Faktor bezeichnet. Damit diese Betrachtung auch für Zwillinge gilt, die nicht dieselbe Ruhemasse m0 besitzen, darf man allerdings nicht die absolute Änderung ΔS betrachten, sondern muss die relative Änderung ΔS / Sverwenden.



Das Gedankexperiment führt also zu folgendem Ergebnis: Beim Übergang von der Gegenwart G1 zu G2 ändert sich der Wirkungswert S für jedes materielle Teilchen und die daraus zusammengesetzten makroskopischen Objekte um eine bestimmte Relation S2/S1. Demnach zeichnet nicht die Zeit die Gegenwart aus, sondern der Parameter Wirkung. Es ist also auch nicht die Zeit, die für alle physikalischen Entitäten gleichermaßen fließt, sondern die relative Veränderung des Wirkungswerts! Damit würde unmittelbar einsichtig, warum sich alle physikalischen Bewegungsgleichungen aus dem Prinzip der extremalen Wirkung herleiten lassen: Alle makroskopischen Objekte nehmen den Weg in Raum und Zeit, der sie in der nächstmöglichen Gegenwart von A nach B bringt. 

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Einschätzung 

Stärken: Erstmals in der Erkenntnisgeschichte der Physik wurde ein innerphysikalischer Grund gefunden, warum sich die Bewegungsgesetze aus dem Prinzip der minimalen Wirkung ableiten lassen. Zudem erhält die Vorstellung einer einheitlichen Gegenwart wieder einen Platz im physikalischen Theoriengebäude.

Schwächen: Aus den hier vorgetragenen Überlegungen ergibt sich nicht, warum der Wirkungswert aller Teilchen einer globalen Veränderung im gesamten Universum unterliegen sollte.

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